VIDEO | Sinn und Unsinn von Fahrlektionen... Dressur Lektionen analysiert von Reiner Wannenwetsch
Thema 2 | der Schritt
Das Leben ist viel zu kurz, um nur Schritt zu fahren...
Ja, es ist richtig, der Spruch ist etwas abgewandelt, uralt und außerdem abgekupfert. Aber ist nicht alles, was wir in unserem Sport an vermeintlich neuen Erkenntnissen unter das fahrende Volk bringen, letztendlich abgekupfert? Haben wir wirklich in den letzten 40 Jahren Fahrsport etwas erfunden, das es bisher im Bezug auf unseren Sportkameraden Pferd noch nicht gegeben hat?
Also den Schritt haben wir bestimmt nicht neu erfunden – er gehört zum Fahren dazu wie das Rad zum Wagen. Manch einer behauptet, es sei die wichtigste Gangart eines Fahrpferdes. Fakt ist, dass er immer am Anfang steht: Ich habe noch deutlich die mahnenden Worte des Großvaters in den Ohren: „Getrabt wird erst, wenn alle Pferde mindestens einmal geäpfelt haben!“ Zufälligerweise war das meist nach etwa 15 bis 20 Minuten, also nach der Zeit, in der wir nach den aktuellen tiermedizinischen Erkenntnissen die Pferde langsam aufwärmen sollen, damit sich die Produktion der „Gelenkschmiere“ erhöht und alle physiologischen Prozesse in Schwung kommen.
Was hat uns dieser Schritt früher geärgert! Zuerst in der Dressur: „Vorne links zackelt“, „hinten rechts kurz / lang“, „insgesamt wenig Raumgriff“. Mit viel Glück eine Sechs, meist eine Fünf und oft auch eine Vier. Mehr war bei den Lipizzanern einfach nicht zu holen. Den Kollegen mit den Friesen oder den Gelderländern ging es genauso. Damit mussten wir leben, die fehlenden Punkte mussten wir eben woanders gutmachen.
Und dann erst im Gelände: Gleich zwei Schrittphasen, jeweils um die 1000 Meter, Vorgabe 7 km/h. Nervig ohne Ende, die A-Phase und sogar der Schnelltrab ein Klacks dagegen. Für uns und die Kollegen mit den „Spezialrassen“ – nicht für die eleganten Oldenburger, Hannoveraner, Holsteiner etc. Trotzdem war der Schritt allen ein Dorn im Auge. Und da kam uns der ungebrochene Wille zu Veränderungen gerade recht: Die Abschaffung des Schnelltrabs zur Schonung der Pferde! Damit wurde zumindest die zweite Schrittphase obsolet. Und dann wurde sie geboren, die neue alles verändernde Idee: Wenn wir auch noch den zweiten Schritt im Gelände abschaffen, werden wir die Qualität der Schrittlektionen in der Dressur signifikant verbessern! Denn nur durch den Geländeschritt ist der Dressurschritt mit der Zeit so schlecht geworden! Das Training gegen die Uhr macht den Schritt eiliger, den Raumgriff schlechter und jeglichen Kontakt zum Pferdemaul zunichte! Ihr ahnt es schon: Falsch gedacht!
Jetzt lag der Ball bei den Richtern. Es kann ja nicht sein, dass einer eine Vier und ein anderer eine Sechs… etc. Ganz findige Kollegen haben versucht, den Schritt zu berechnen: Grundnote sechs bei einem Huf Übertritt. Bei zwei Hufen eine Sieben, nicht übertreten also Fünf. Pro anzackeln eine halbe Note Abzug pro Pferd. Der Fantasie dieser Berechnungen sind kaum Grenzen gesetzt, aber der Schritt wurde dadurch nicht besser und die Diskussion darüber nicht einfacher. Auch nicht, als sich die Aktiven nach Abschaffung der Schlussnote „Gang“ nicht mehr darüber aufregen mussten, wenn nach einer Drei im ersten und einer Vier im zweiten Schritt der Gang mit sechs statt der bei den anderen Kollegen mit acht oder neun bewertet wurde.
Es bleibt die Frage, wie er denn jetzt eigentlich aussehen sollte, der gute freie Schritt. Eigentlich ist die Antwort relativ simpel: Wer schon einmal das Vergnügen hatte, am frühen Morgen eine Stutenherde auf dem Weg zur frischen saftigen Weide zu beobachten, kennt sie. Ruhig, gelassen, raumgreifend, fleißig und zielstrebig. Nase in Höhe des Buggelenks, leicht vor der Senkrechten. Deutlich zu sehen der Übertritt und ein Schritt, der wirklich „durch das ganze Pferd geht“.
Ein schöner freier Schritt im Gelände...
Der Fahrer hat beim freien Schritt gerade mal so viel Kontakt wie nötig ist um den Pferden die Richtung vorzugeben und den Hals rund zu halten. Und doch so wenig, dass das bewegungsbedingte Pendeln des Halses nach links und rechts sowie eine leichte Nickbewegung des Kopfes möglich bleibt. Natürlich ohne dass die Pferde sich die Gegend anschauen und dabei die Leinen durchhängen. Das alles muss selbstverständlich über einen längeren Zeitraum geübt werden. Peitsche im Köcher und Handy am Ohr ist dabei eher kontraproduktiv. Ganz genau übrigens beschrieben ist das in den Driving Rules § 954.2 bis § 954.4. Da ist jetzt auch endlich der klare Unterschied zwischen Schritt, freiem Schritt und starkem Schritt dokumentiert. Soviel zur Theorie.
Was also unter dem Sattel mit Müh und Not praktizierbar ist, soll vom Bock aus genauso gelingen – auch wenn man außer mit den Fingern nichts fühlen kann und (zumindest beim Mehrspänner) nicht wirklich etwas sieht. Eine echte Herausforderung für die Fahrer und auch für die Richter. Man muss sich einmal vorstellen, was der Fahrer liefern und ein Richter sehen, beurteilen und kommentieren soll. Beispiel Test 3*HP2 / 3* HP4 2022. Lektion 8, L-X-I Schritt. Sanftes Anfahren (nach vorherigem Halt) Regelmässigkeit, Qualität der Schritte, Anlehnung, deutlicher 4-Takt, Entspannung, gleiche Abstände zwischen den einzelnen Schritten, Übergang zum Halt. Oder Lektion 11, H-P, Freier Schritt. Freiheit, Regelmäßigkeit, Dehnung, Erweiterung von Rahmen und Raumgriff, Energie, Entspannung. Welche nahezu übermenschliche Fähigkeiten muss der Erfinder dieser Lektionen haben bzw. den Richtern von Zwei- und Vierspännerprüfungen mit bis zu 50 Teilnehmern pro Tag zumuten! Das können in diesem Fall locker flockig mal 100 Schrittlektionen für 130 verschiedene Pferde sein!
Ich denke, zielführender wäre eine einzige Lektion freier Schritt, fleißig, geregelt, vorwärts-abwärts, mit rundem Hals, schreitend, durch das ganze Pferd gehend. Das wäre klar und deutlich, von jedem zu verstehen, klar zu trainieren und mit ganz normalem Pferdeverstand zu richten.
Damit wären wir dann wieder am Anfang und der Frage ob es denn möglich ist, etwas Neues zu erfinden. Oder ob es wirklich zielführend ist, wenn wir –wie früher beim Geländeschritt – die verschiedenen Schrittlektionen solange trainieren, bis wir den perfekten Schritt bei allen Pferdetypen präsentieren können. Zeitgleich müssen wir dann nur noch den Richtern beibringen, das auch entsprechend zu würdigen. Ob dabei die Tendenz, unsere Jurymitglieder von den Athleten oder deren Trainern schulen zu lassen, eine weitere bahnbrechende Erfindung ist? Wir werden sehen. Warten wir’s ab. Das wichtigste dabei ist, dass wir immer an den Isenbarth denken.
Euer
Reiner Wannenwetsch